Traumafolgestörungen: Diagnostik und Therapie
Beitrag von Thomas Gruyters in dem Buch "Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie", herausgegeben von Udo Boessmann und Arno Remmers
![]() |
Trauma und Dissoziation |
Trauma
Das
Wort "Trauma" bedeutet in der deutschen
Alltagsprache "Verletzung". In der Psychopathologie und
Psychotherapie wird der Begriff sowohl für das auslösende Ereignis und die
unmittelbare Reaktion des Betroffenen als auch für eine eventuell nach dem
Vorfall verbleibende Traumafolgestörung verwendet. Begrifflich klarer ist es, von
traumatischen Erlebnissen, der traumatischen Verarbeitung und den nachfolgenden
Traumafolgestörungen zu sprechen.
Neuere Konzepte zur Genese von Traumafolgestörungen
Was ist unter dem Prozess
einer psychischen Traumatisierung zu verstehen? Zum Zeitpunkt des Geschehens
handelt es sich laut Gottfried Fischer und Peter Riedesser um ein Ereignis, welches eine Erschütterung
des Selbst- und Weltverständnisses
bewirkt.[1] Die üblichen Bewältigungsmechanismen der Betroffenen sind völlig
überfordert. Dies kann ein schwerer Unfall, ein Überfall, ein sexueller Übergriff,
eine Todesbedrohung oder das Erleben von Kriegs- und Kampfhandlungen oder aber
auch das Erleben einer Naturkatastrophe sein. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen das akut Existenzbedrohliche.
Für den betroffenen
Menschen spielt es eine große Rolle, wie häufig und wie früh in seinem Leben er
traumatischen Situationen ausgesetzt war. Als besonders maligne haben sich
dabei die Erfahrungen von personalisierter Gewalt durch enge Bezugspersonen
erwiesen, wie z. B. ein sexueller Missbrauch durch einen nahen Familienangehörigen.
Menschen die fortlaufend oder sequenziell traumatisiert wurden, können eine
Komplex-Traumatisierung entwickeln. Diese zeichnet sich im Gegensatz
zu einer Mono-Traumatisierung, der nur ein oder
wenige traumatische Vorfälle zugrunde liegen, durch eine mehr oder minder
starke Beschädigung der Struktur mit Dissoziation der Gesamtpersönlichkeit aus. Jochen Peichl
spricht von "dissoziierten Ego-States", bei denen verschiedene, aber
normalerweise miteinander verbundene Ich-Zustände, Formen des Selbsterlebens
und mit ihnen verbundene Verhaltensmuster (z. B. introjizierte Trauma-States,
Täter- und Opferintrojekte) zum Schutz des "Kernselbst" mehr oder weniger
stark voneinander getrennt sind. Im Extremfall ist das Resultat der frühen und
systematischen Traumatisierung eine völlige Fragmentierung der Gesamtpersönlichkeit im Sinne einer dissoziativen
Identitätsstörung (DIS).[3]
Eine traumatische bzw.
extreme Belastungssituation aktiviert u. a. die Amygdala. Diese Formation des
limbischen Systems agiert wie eine Art Feuermelder. Sie erlaubt
eine blitzschnelle Einschätzung, ob etwas gefährlich ist oder nicht. Ist die
Einschätzung positiv, wird ein vegetativer und motorischer Notfallmechanismus
aktiviert. Uralte zentrale Muster wie Kampf oder Flucht werden aktiviert und
sollen das Überleben des betroffenen Individuums sichern. Die Amygdala ist das
Zentrum der furcht- und angstgeleiteten
Verhaltensreaktionen. Sie reagiert vorbewusst und viel schneller als die
Bewertung durch das Großhirn. Im Falle einer Notsituation, z. B. bei einer
Bedrohung durch ein wildes Tier, ist das sehr sinnvoll. Die Reaktion der
Amygdala hängt allerdings von Vorerfahrungen und von der Persönlichkeit des
Individuums ab. Daher entwickeln verschiedene Menschen ganz unterschiedliche
Reaktionen auf das gleiche Trauma. Und nur ein Teil
von ihnen entwickelt das Krankheitsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Bei Patienten mit
Traumaerfahrungen, die eine PTBS entwickelt
haben, wird überwiegend die rechte Gehirnhälfte aktiviert, sobald sie sich ihre
traumatischen Erfahrungen ins Gedächtnis rufen. Im Unterschied dazu werden bei
Menschen mit Traumaerfahrungen, die aber keine PTBS entwickelt haben,
überwiegend Regionen der linken Hemisphäre aktiviert.[5] Der linke Hippocampus fördert die Bildung
symbolischer Repräsentationen, also sprachbasierte, semantische Erinnerungen.
Dadurch ist eine rationale Verarbeitung dieser Erinnerungen (logischer
Zusammenhang, Ursache und Wirkung, Absicht und Zweck) möglich. Dagegen
speichert die rechte Hemisphäre – vermittelt durch den rechten Hippocampus –
nonverbale Aspekte von Erinnerungen. Das Gedächtnis der rechten Hemisphäre
betrifft ganzheitliches Erleben samt der damit verbundenen Erregung und
Gefühlqualität sowie der vegetativen Reaktionen.[6] Die rechtshemisphärische Erinnerung kann
unangenehm realistisch sein und – wie bei der PTBS – als
"Flashbacks" erfahren werden.
Die folgenden zwei Abbildungen zeigen den Unterschied zwischen dem herkömmlichen psychodynamischen Verständnis von der Entstehung psychischer Krankheit und der traumaspezifischen Sichtweise:
Die folgenden zwei Abbildungen zeigen den Unterschied zwischen dem herkömmlichen psychodynamischen Verständnis von der Entstehung psychischer Krankheit und der traumaspezifischen Sichtweise:
Traumaspezifisches Modell:
![]() |
Psychodynamik bei Trauma |
Für die beiden erwähnten Extremzustände während einer akuten Traumatisierung, Hyperarousal und Hypoarousal, ist eine "Trennung" zwischen dem Großhirn und dem limbischen System kennzeichnend. Das logische Denken ist z. T. entkoppelt und eine bewusste Steuerung des Geschehens ist nicht mehr möglich. Das limbisches System mit seiner emotionalen Steuerung übernimmt die Kontrolle. In dieser Notfallreaktion arbeitet auch das Informationsverarbeitungs- und Gedächtnissystem nur noch sehr eingeschränkt. Traumatische Situationen werden oft nur fragmentiert abgespeichert und nur unzureichend mit anderen Erinnerungen und semantischen Netzwerken verknüpft. An das Trauma erinnernde Wahrnehmungen (nach einem Unfall z. B. das Quietschen einer Bremse, der Geruch von Gummi oder der Anblick einer Autobahn) können dann leicht ein erneutes Traumaerleben triggern. Der traumatisierte Mensch fühlt sich dann wieder wie in einer Notfallreaktion und wird von Emotionen überflutet. Es kann sich ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten entwickeln (z. B. Vermeidung des Autofahrens).
Bei der Diagnostik und
Therapie von Traumafolgestörungen (die häufigste Störung dieser Art ist die posttraumatische
Belastungsstörung = PTBS) muss die Besonderheit beachtet werden,
dass das Erzählen des Erlebten nicht wie sonst üblich entlastet, sondern das Wiedererleben
des Traumas triggern kann. Das Problem ist, dass sowohl im posttraumatischen
Hyperarousal als auch im Hypoarousal das Erlebte nicht verarbeitet und integriert
werden kann. Die Verarbeitung und Integration sind nur im sog. "Window of Tolerance" möglich. Das
ist der Bereich zwischen Hyper- und Hypoarousal, in dem Großhirn und limbisches
System nicht getrennt sind und zusammenarbeiten.[8] Daher ist bei Traumafolgestörungen eine modifizierte Psychodiagnostik und
Psychotherapie erforderlich. Konkrete traumaspezifische Modifikationen der
tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wurden erstmals von Luise
Reddemann, Johannes Kruse und Wolfgang Wöller vorgeschlagen und ausgearbeitet.[9] Berücksichtigt wurden dabei die
schulenübergreifende Gliederung einer Traumatherapie in eine Stabilisierungsphase, eine Traumakonfrontationsphase und eine Integrationsphase.
Spezielle Diagnostik von Traumfolgestörungen
Beim Vorliegen einer psychischen Traumafolgestörung ist eine Modifikation der Anamneseerhebung
nötig. Wie im Kapitel 2 unter "Neuere Konzepte zur
Genese von Traumafolgestörungen" (Seite 109) beschrieben wurde, droht bei einer "normalen"
Anamneseerhebung ein
"Triggern" der fragmentierten Traumaerinnerungen und ein Auslösen von
Erregungs- und dissoziativen Zuständen. Bei nicht vorhandener Vorinformation
ist das Auslösen dieser Zustände während der Anamnese schon an sich ein
Kriterium für die mögliche Diagnose "Traumafolgestörung".
Sollte der Verdacht auf das
Vorliegen einer PTBS, Mono- oder Komplextraumatisierung bestehen, empfiehlt sich, eine
"sanfte" Belastungs-Ressourcen-Anamnese durchzuführen. Der Patient
benötigt das Gefühl von Sicherheit und Stabilität auch und besonders zu Beginn
einer Therapie und somit auch während der Anamnese. Es ist eine Gratwanderung
am Rande der traumatischen Erfahrung, ein vorsichtiges Ausloten, Erfassen und
Etikettieren von traumatischen Erfahrungen, ohne sofort zu sehr in die Tiefe zu
gehen.
Beim
Vorgehen gibt es erhebliche Unterschiede zwischen (akut) Monotraumatissierten
und Komplextraumatisierten. Während Erstere häufig recht schnell und unter
mäßiger Belastung von den Vorfällen erzählen können, steigt bei zunehmenden
Grad der Mehrfachtraumatisierung und einem frühen Zeitpunkt der traumatischen
Erfahrung im Lebensverlauf das Risiko einer dadurch ausgelösten Dekompensation. Geduld und
Achtsamkeit sind notwendig, damit der Patient auch bei der
Anamneseerhebung möglichst im "Window of Tolerance" bleibt.
Als
Verfahren hat sich u. a. eine Timeline-Arbeit bewährt: An dem in der Mitte auf
den Boden gelegten Zeitstrang werden auf der einen Seite der Linie die
positiven und auf der anderen Seite die negativen, traumatischen Erlebnisse mit
Hilfe von farbigen Karteikarten erfasst und gelegt. So wird verhindert, dass
der Fokus zu stark auf das Negative und Desolate
gerichtet wird und der Patient sowohl von den traumatischen Erfahrungen als
auch einem damit verbundenen Gefühl extremer Hilflosigkeit und Verzweiflung überflutet wird. Eine andere
Methode ist ein systematisches Erfragen von positiven und negativen Ereignissen
während einzelner Lebensabschnitte (0-5, 5-10 Jahre etc.). Die Art und das
Ausmaß des dadurch zutage tretenden traumatischen Materials beeinflussen ganz
wesentlich die Therapieplanung und die weiteren Behandlungsschritte.
Die
Diagnose einer Traumafolgestörung ist bei zunehmender Komplexität der Störung und einer damit einhergehenden
zunehmenden Komplexität der Symptomatik oft keine leichte Übung. Denn die
Diagnose einer (klassischen) posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) hat erst sehr spät Eingang in das
Diagnostiksystem des ICD-10 gefunden und ist, wie die klinische Erfahrung
zeigt, zu eng definiert. So fehlt völlig die Beschreibung und Erfassung der
häufig vorhandenen dissoziativen Symptomatik. Dissoziative Phänomene und
Störungen befinden sich in einem ganz anderen Bereich der ICD-10. Hier findet
man auch die ehemals multiple Persönlichkeitsstörung, heute als dissoziative
Identitätsstörung (DIS) bezeichnet.
Beim
Vorliegen einer tertiären Dissoziation, d. h. einer tief greifenden Veränderung der
Persönlichkeitsstruktur durch eine frühe und/oder länger andauernde
psychische Traumatisierung, bietet die ICD-10
derzeit kaum Möglichkeiten, diese diagnostisch zu erfassen. Neben der schon
erwähnten DIS gibt es nur noch die Diagnose einer Persönlichkeitsveränderung
nach Extrembelastung. Diese Diagnose setzt aber eine stabile Persönlichkeit vor
der Traumatisierung voraus. Diese mag bei Soldaten vor einem Einsatz vorhanden
gewesen sein. Bei Menschen mit frühen und lang andauernden Gewalterfahrungen,
wie einem mehrfachen sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater, geht diese
Diagnosekategorie jedoch an der Wirklichkeit vorbei. Voraussichtlich wird erst
die Neubearbeitung der ICD in der elften Version die Diagnose einer frühen
Entwicklungstraumatisierung ermöglichen.
Auf
der Symptomebene und zur Eingrenzung der aktuell vorliegenden
Traumafolgestörung können spezifische Testverfahren eingesetzt werden. Auch
diese können eine gewisse psychische Belastung darstellen. Da aber hier keine
individuelle Traumaerinnerung, sondern die Symptomatik im Hier und Jetzt abgefragt wird, hält sich diese zumeist in
Grenzen. Ein Screening-Instrument für das Vorliegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) ist z. B. die Impact of Event Scale
(IES und IES-R)[10]. Diese erfasst anhand eines Selbsteinschätzungsfragebogens die drei
Symptombereiche einer PTBS: Hyperarousal, Intrusionen und
Vermeidung. Eine Alternative dazu stellt
das Essener Traumainventar[11] dar. Mit diesem Instrument, welches in einer Selbsteinschätzungs- und auch
in einer Befragungsversion vorliegt, kann sowohl eine akute Belastungsreaktion
als auch PTBS (nach DSM) erfasst werden.
Als sog.
"Goldstandard" der testdiagnostischen Erfassung einer PTBS gilt die Clinical
Administered PTSD Scale (CAPS)[12], die eine sehr genaue Erfassung der traumatischen Ereignisse, der Schwere
und Dauer der Symptomatik und der Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche
erfasst. Die CAPS ist recht umfangreich, erfordert viel Durchführungs- und
Auswertungszeit und stellt für den Patienten eine gewisse Belastung dar. Sie
ist ebenfalls am amerikanischen DSM-System orientiert. Schließlich ist noch der
"Fragebogen zu dissoziativen Symptomen" (FDS)[13] zu erwähnen. Der FDS ist ein Screening-Instrument, der das Vorliegen und
das Ausmaß verschiedener dissoziativer Phänomene erfasst, einschließlich
Depersonalisation und Derealisation. Er arbeitet
ebenfalls mit Selbsteinschätzungsskalen.
Besonderheiten der Therapie von Traumpatienten
Wie bereits erwähnt bedarf eine Traumafolgestörung einer Modifikation der
tiefenpsychologischen Psychotherapie. Dies gilt v. a. für den ersten Teil einer
Therapie. Wenn neben der Traumafolgestörung zusätzlich Konfliktpathologien oder
strukturelle Defizite vorliegen, so sollten diese nach Luise
Reddemann, Wolfgang Wöller und Johannes Kruse[14] erst nach Abschluss einer erfolgreichen traumatherapeutischen Phase
psychodynamisch behandelt werden. In der Traumatherapie ist im Vergleich zur Behandlung von
anderen Störungsbildern eine stärkere Strukturierung des Prozesses notwendig.
Die TherapeutIn ist aktiver, gestaltet den Prozess insgesamt sehr transparent
und ist darum bemüht, mögliche Übertragungsphänomene möglichst frühzeitig zu benennen und aufzulösen.
Wichtig sind ein solider Beziehungsaufbau zum Patienten, ein sehr klares
Arbeitsbündnis und eine sehr klare Orientierung im Hier und Jetzt. Schulenübergreifend
wird folgende Struktur der Therapie empfohlen:
- Stabilisierungsphase
- Traumakonfrontation
- Integration.
Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung
Bei der Kontaktaufnahme zu
traumatisierten Menschen ist das traumaspezifische Bindungsverhalten nach Karl
Heinz Brisch[15] zu beachten. Auf Basis des Dramadreiecks (Opfer - Retter - Täter) von
Stephen Karpman[16] können traumaspezifische Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse beschrieben werden. Kennzeichnend für den
Therapiebeginn ist häufig eine klare Definition des Patienten als
"Opfer" einer Traumatisierung, der Therapeut
versucht, der "Retter" zu sein, indem er z. B. besser als der Täter
ist, sich in einem sehr hohen Maße engagiert. Nach und nach entsteht eine
Dynamik wechselnder Rollen. So kann das Misstrauen des Patienten dazu führen,
dass der Therapeut in eine Täterposition gerät, oder aber sich vom Patienten
stark entwertet fühlt und sich als Opfer empfindet. Es kommt zum Wechsel
zwischen den einzelnen Positionen des Dreiecks.
Der Therapeut sollte
anstreben, zusammen mit dem Patienten aus diesem Dreieck auszusteigen, indem
die eigenen Rollen immer wieder hinterfragt werden. Ziel des Therapeuten ist
es, unabhängiger Beobachter und Begleiter zu werden. In diesem Zusammenhang
sprechen Gottfried Fischer und Riedesser[17] (2004) von einer "parteilichen Abstinenz" als
notwendiger Grundhaltung in der Traumatherapie. Diese umfasst neben dem notwendigen Stützen und Unterstützen des Patienten
in diesem schwierigen Prozess eben auch eine Zurückhaltung und eine möglichst
große Zurückgabe der Kontrolle des Prozesses an den Patienten. Wichtig ist, zu
fragen, zu hinterfragen, aber auch zu akzeptieren, wenn der Patient nicht
sofort eine Antwort geben kann.
Anamnese und Behandlungsplanung
Die Anamnese ist behutsam durchzuführen. Ein zu tiefes Einsteigen in die traumatischen
Themen mit den dazugehörigen Triggern von Erregungs- und dissoziativen
Zuständen ist zu vermeiden. Im Vordergrund dieser Behandlungsphase steht der
Beziehungsaufbau zum Patienten, das Vermitteln eines Gefühls von Sicherheit und
Stabilität. Insofern kann es auch schon in dieser Phase sinnvoll sein, erste
Stabilisierungstechniken wie z. B. die von Reddemann beschriebene imaginative Übung der Etablierung
eines Tresors oder sicheren inneren Ortes einzuführen und mit dem Patienten zu
üben. Der für eine erfolgreiche Therapie notwendige Gewinn von Informationen über
die Genese der Pathologie hat gegenüber dem Beziehungsaufbau und der Stabilisierung
des Patienten ein Stück weit zurückzutreten. Der Fokus liegt auf dem kontrollierten Wechsel
zwischen (erlebter) Sicherheit und Unsicherheit im Erzählen und dem Erleben der
aktuellen Situation in der Therapie. Gemäß einem "Sandwich-Prinzip"
wird die Betrachtung von traumatischem Material in den Blick und das Erleben
eigener Ressourcen "eingepackt". Man startet
mit Ressourcenaktivierung, geht in die
Traumaanamnese und wechselt dann wieder zu den Ressourcen.
Von Anfang an wird der
therapeutische Prozess sehr transparent gehalten, sodass der Patient auch hier
das Gefühl der Kontrolle über den Therapieprozess gewinnen kann. Der
Transparenz dient auch eine sehr frühzeitige Psychoedukation: Der Patient wird
aufgeklärt über die Traumagenese, deren
neurobiologische Wurzeln, den Mechanismus der Entstehung von Symptomen, insbesondere
über die Bedeutung und die Natur von dissoziativen Symptomen. Diese frühzeitige Aufklärung nennt man "Normalisierung". Der
Patient erfährt, dass bestimmte neurobiologische Reaktionen und dissoziative Phänomene "normal" sind
für die Reaktion und Bewältigungsversuche nach einer Traumatisierung. Die Bedeutung von
Dissoziation als "Überlebensmechanismus" wird
hervorgehoben. Durch diese Intervention werden auch früh die Themen Scham und Schuld angegangen, da bei vielen Betroffenen massive
Selbstzweifel vorherrschen.
Als gute Methodik für eine
Anamneseerhebung haben sich Ressourcen-
Belastungsdiagramme wie die in Kapitel 4 vorgestellte Timeline-Arbeit bewährt.
Durch ein solches Vorgehen können, ganz im Sinne des Sandwich Prinzips, die erfahrenen Traumen in den Gesamtlebenslauf
eingebettet gesehen werden. Auch Ressourcen des Patienten können erkannt und in
den Therapieprozess eingebunden werden. Eine Identifizierung der wesentlichen
Traumen ermöglicht eine Planung der später im Therapieverlauf erfolgenden
Traumakonfrontation. Insbesondere bei einer Vielzahl von Traumatisierungen wird vermieden, dass der Patient im Strudel
der Erinnerung daran und in einer Problemtrance versinkt.
Stabilisierungsphase
In der Stabilisierungsphase werden die Voraussetzungen dafür geschaffen,
das Menschen eine gewisse Kontrolle über die Symptomatik, insbesondere das Triggern
und die damit einhergehende emotionale Überflutung und/oder die dissoziative Reaktion, erlangen. Dies geschieht
beispielsweise mit den von Luise Reddemann ausgearbeiteten Imaginations- und
Stabilisierungsübungen.[18] Für viele betroffene Menschen bedeutet
eine erfolgreiche Stabilisierung schon einen enormen Gewinn in Bezug auf ihre
psychische Gesundung und Lebensqualität. Ziel ist es aber zumeist, das Trauma wirklich zu verarbeiten und zu integrieren. In
der Stabilisierungsphase wird versucht, das "Windows of Tolerance" des Patienten auszuweiten. Der Patient lernt Techniken, um sich
selbst zu stabilisieren und einen besseren Umgang mit Triggersituationen zu
erreichen. Die Stabilisierung ist eine notwendige Voraussetzung für die
Traumakonfrotation, die eigentliche Wiedererinnerungsarbeit.
Die Stabilisierungsarbeit
fängt im Hier und Jetzt an: Ist der Patient wirklich sicher?
Es ist notwendig, zunächst einmal den Blick auf die (reale) äußere Sicherheit
zu richten: Wie sieht die Lebenswirklichkeit aus? Gibt es existenzielle
Bedrohungen wie z. B. finanzielle Probleme oder drohende Abschiebung? Sehr
bedeutsam ist auch die Frage nach einem eventuell bestehenden Täterkontakt:
Lebt der Patient, die Patientin nach wie vor mit dem Vergewaltiger zusammen? Betreibt
der Täter Stalking? Wie ist der Stand der polizeilichen Ermittlungen und/oder
des Gerichtsverfahrens? Eine psychische Stabilisierung ohne eine Antwort auf
mögliche Bedrohungen der äußeren Sicherheit ist wenig Erfolg versprechend. Es
kann vorkommen, dass man sich als Therapeut plötzlich in der Rolle eines
Sozialarbeiters wiederfindet bzw. zumindest entsprechende klärende und
sichernde Prozesse in einem Helfernetzwerk mit anstoßen muss. Erst wenn eine
äußere Sicherheit besteht, können Stabilisierungstechniken wie die von
Reddemann beschriebenen Imaginativen Verfahren wirklich
greifen.
Es taucht immer wieder die
Frage auf, wie lange die Stabilisierungsphase dauern muss, bevor an eine Traumakonfrontation gedacht werden kann. Die einfache
Antwort ist: wenn eine Betrachtung des Traumas im "Window of Tolerance" möglich ist. Doch sind sich die
Traumatherapeuten bei dieser Frage nicht einig. Die einen sagen, dass eine
erfolgreiche Stabilisierung hinreichend für einen Behandlungserfolg sei. Eine
Traumakonfrontation, insbesondere von komplex traumatisierten Menschen, bedeute
ein erneutes Destabilisierungsrisiko und bringe dem betroffenen Patienten
keinen wirklichen Gewinn an Lebensqualität. Die anderen fordern eine möglichst
schnelle Traumakonfrontation, da nur diese eine wirkliche Heilung ermögliche.
Eine zu lange Stabilisierungsphase würde die Behandlung unnötig verlangsamen.
Auch wenn die Tendenz in
den letzten Jahren eindeutig in Richtung möglichst früher Traumakonfrontation geht, ist immer der Einzelfall zu
beachten. V. a. sollte der Patient über das Für und Wider der verschiedenen
Vorgehensweisen so genau informiert werden, dass er selbst für sich die
Entscheidung treffen kann, ob er sich der Belastung einer Traumakonfrontation
unterziehen möchte. Zu beachten ist, dass auch die Stabilisierungsarbeit oder
allein die Anamnese immer schon eine partielle Traumakonfrontation sind. Beim
Üben von Tresor- und Sicherer-Ort-Technik beschäftigt man sich direkt oder indirekt
mit dem, was man aus dem sicheren Ort ausschließen will – mit dem traumatischen
Material. Insofern ist die postulierte strikte Zweiteilung zwischen
Stabilisierung und Konfrontation eher künstlich.
Traumakonfrontation (Wiedererinnerung)
Ist die gemeinsame Entscheidung von Therapeut und Patient zugunsten der
Durchführung einer Traumakonfrontation gefallen, steht die Auswahl eines
Traumakonfrontationsverfahrens an. Im tiefenpsychologischen Setting bieten sich v. a. das EMDR (Eye Movement Desensitization), eine
Methode von Francine Shapiro[20], und die PITT-Methode von Reddemann[21] an. Diese Methoden erfordern zur Durchführung den Erwerb einer
entsprechenden Zusatzqualifikation. Ziel aller Traumakonfrontationsverfahren
ist die erneute Betrachtung, das Durcherleben und die Verarbeitung des erlebten
Traumas aus der Position eines sicheren Hier und Jetzt. Gut geankert im
Hier und Jetzt kann der Blick auf das Erlebte gerichtet werden. Die
traumatisierende Situation kann ohne erneute (emotionale) Überflutung
wiederlebt werden. Dabei scheint es eine Rolle zu spielen, dass möglichst die
kognitive, die emotionale und die körperliche Ebene angesprochen und
verarbeitet werden. So spielen bei der Traumakonfrontation sowohl die Sinneseindrücke
als auch negative Selbstbewertungen, belastende Emotionen und oft
unwillkürliche körperliche Reaktionen und Verspannungen eine große Rolle. Für
eine erfolgreiche Traumakonfrontation ist eine Bearbeitung auf allen diesen
"Kanälen" nötig. Genaueres kann nachgelesen werden bei Shapiro und Reddemann sowie bei Oliver Schubbe und Thomas Gruyters[22].
Am Ende einer oder mehrerer
Traumakonfrontationssitzungen ist es für den Patienten möglich, nahezu ohne
emotionale Belastung auf das Erlebte zu schauen. Die neurobiologische Notfallreaktion
wird nicht mehr durch Trigger ausgelöst. Der Patient geht weder in das
Hyperarousal noch in das Hypoarousal. Nach dieser Therapiephase steht
als nächster Schritt die Integration des Erlebten an.
Integration
Das Postulat einer von den anderen
Phasen abgegrenzten Integrationsphase ist ebenfalls etwas künstlich. Die Integration des Erlebten geschieht im therapeutischen
Prozess fortlaufend und beginnt schon mit dem Therapiebeginn. Dennoch ist
häufig nach einer erfolgreichen Traumakonfrontation ein spezifischer Nachbearbeitungsprozess
notwendig und sinnvoll. Es kann darum gehen, gewisse Dinge zu betrauern, sich
von Dingen zu verabschieden und/oder zu spüren, inwieweit traumatische
Erlebnisse das Leben verändert haben. Als Patient gebe ich dem Ereignis einen
Stellenwert in meinem ganzen Lebenslauf, akzeptiere nunmehr voll und ganz, dass
es passiert ist. Im positivsten Fall kann ich als Patient ein Gefühl der
posttraumatischen Reifung erfahren: Ich nehme wahr, dass sich durch das
Ereignis, durch das Erleben und Überleben des Traumas meine Weltsicht erweitert
hat, ich einen Zugewinn an Erfahrung und Reife verzeichnen kann. Prioritäten in
meinem Leben können sich in einem positiv erlebten Sinne verändert haben. Eine
gewisse Gelassenheit und Ruhe sind feststellbar.
Das Vorgehen bei akut traumatisierten Patienten
Patienten, deren traumatische Erfahrung erst wenige Tage bis Wochen zurückliegt, können erhebliche Symptome zeigen, z. B. innere Unruhe, Schlafstörungen und Reizbarkeit. Es besteht aber durchaus die Chance, dass die Übererregung und/oder dissoziative Symptomatik von selbst wieder verschwindet. Denn das Gehirn kann selbst schwerste Belastungen verarbeiten. Allerdings spielen Faktoren wie die Persönlichkeitsstruktur, Resilienz und bestehende Vulnerabilitäten eine große Rolle. Menschen, die nach einer akuten Traumaerfahrung zur Psychotherapie kommen, benötigen zunächst eine Aufklärung über das neurobiologische Modell der Entstehung von Traumatisierungsstörungen. Ihnen wird erklärt, dass sie eine massive, aber angesichts der Situation durchaus angemessene Stressreaktion haben. Sie werden darüber informiert, dass eine therapeutische Unterstützung zu ihrer psychischen Stabilisierung das Risiko einer PTBS reduziert. Gemeinsam mit dem Patienten sollten Ressourcen erkundet werden, und der Patient sollte motiviert werden, diese zu nutzen. Imaginative Übungen können einen sehr wichtigen Beitrag zur Stabilisierung leisten. Da sich in den ersten Wochen nach einer Traumatisierung entscheidet, ob sich eine überdauernde PTBS entwickelt, sollte – bei einer hinreichenden Persönlichkeitsstabilität und nur geringen Vorbelastungen – eine schnelle Traumakonfrontation in Erwägung gezogen werden. Diese kann einer Chronifizierung der Störung häufig wirksam abhelfen.Das Vorgehen bei komplex traumatisierten Patienten und bei Täterintrojekten
Menschen mit einer Vielzahl von
traumatischen Erfahrungen, insbesondere bei personalisierter Gewalt, können
eine komplexe PTBS entwickeln. Die komplexe PTBS ist mit der ICD bislang nur
unzureichend beschreibbar. Die Patienten benötigen ein besonders behutsames
Vorgehen im therapeutischen Prozess, und das Übertragungs-, Gegenübertragungsgeschehen verdient eine ganz besondere Beachtung. Auch
die Quantität und Qualität der dissoziativen Symptomatik erreicht häufig im
Vergleich zur einfachen PTBS (die meist nach Monotraumatisierung auftritt) ein
ganz anderes Ausmaß. Da sich bei diesen Menschen oft eine strukturelle Störung
im Sinne einer tertiären Dissoziation finden lässt, ist neben der üblichen
Psychodiagnostik zumeist eine Diagnose der Persönlichkeitsstruktur im Sinne eines Auffindens und Benennens von
sog. "Egostates" notwendig. Dissoziierte Teile der Persönlichkeit,
die aus der traumatischen Erfahrung entstanden sind, können Teile des
traumatischen Materials speichern und sowohl Opfer- als auch Wächter- und
Kritikerfunktionen im Rahmen der Gesamtpersönlichkeit übernehmen. Ohne eine
Würdigung und Anerkennung dieser Teile sind viele ("normale")
therapeutische Interventionen zum Scheitern verurteilt.
In diesem Zusammenhang sind die sog. Täterintrojekte zu beachten: Opfer, die immer wieder
durch einen Täter traumatisiert wurden, passen sich mitunter an das negative Bild an, das der Täter von
ihnen hatte. Es entstehen Introjekte wie z. B.: "Ich verdiene es nichts anders, als missbraucht zu
werden." Das Opfer übernimmt die Tätersicht in das eigene
Selbstbild, wodurch sich das Opfer mit dem Täter verbunden fühlen kann und sich
nicht mehr ganz so ausgeliefert und verlassen fühlen muss. Nicht selten betrachten Täterintrojekte eine Psychotherapie zunächst einmal als Bedrohung und
boykottieren diese. Nach ausreichender Stabilisierung
können die Erfahrungen, die zur Introjektbildung geführt haben, rekonstruiert
und bewusst gemacht werden. Dadurch können irrationale Überzeugungen und
Fantasien verändert werden. Es geht u. a. darum, alle dissoziierten Anteile des Patienten
mit ins Boot der Psychotherapie zu bekommen. Es wird hier auf die Arbeiten zur
Egostate-Therapie von Peichl verwiesen.[23] Auch in dieser
Arbeit bedarf es spezifischer Techniken, die man im Rahmen von
Zusatzqualifikationen erlangen kann.
Der Beitrag entstammt dem Buch
Der Beitrag entstammt dem Buch
[5] Launius
RA, Williamson PC, Densmore M, Boksman K, Neufeld RW, Gati JS, et al., 2004: "The
nature of traumatic memories: a 4-T fMRI functional connectivity analysis",
Am J Psychiatry, 161. Bei PTBS-Patienten werden u. a. der
rechte Gyrus cinguli posterior, der rechte Nucleus caudatus, der rechte Pariatal-
und Occipitallappen aktiviert.
[11] Tagay S, Erim Y,
Stoelk B, Möllering A, Mewes R, Senf W, 2007: "Das Essener Trauma-Inventar (ETI) –
Ein Screeninginstrument zur Identifikation traumatischer Ereignisse und posttraumatischer
Störungen", Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft,
Psychologische Medizin, 5 (1).
[13] Spitzer
C, Stieglitz RD, Freyberger HJ, 2004: "Fragebogen zu Dissoziativen
Symptomen (FDS). Testmanual", 2., überarbeitete und erweiterte Auflage,
Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung eines amerikanischen Testes.
[14] Reddemann L, Wöller W, Kruse J, 2005: "Opfer traumatischer Gewalt. Patientinnen mit
posttraumatischen Störungsbildern", in: Wöller W, Kruse J: "Tiefenpsychologisch
fundierte Psychotherapie: Basisbuch und Praxisleitfaden", Stuttgart: Schattauer.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen